Veröffentlicht am Ein Kommentar

Lucile oder: Vom Glücksgefühl, einen Schatz zu heben

Lucy Duff Gordon Lucile Mein Leben als Modeschoepferin Discretions and indiscretions Blick ins buch

Liebe Leserinnen und Leser,

oft werde ich gefragt, wie ich die verschollenen Texte ausfindig mache, die bei Texte + Textilien wieder neu veröffentlicht werden. Das neueste Buch im Verlag, die Autobiografie der Londoner Modedesignerin Lucy „Lucile“ Duff-Gordon von 1935, war bislang noch nie auf Deutsch erschienen. Die Kleider von Lucile kennt man vielleicht aus den Modesammlungen der Kunstgewerbemuseen – dass die Designerin außerdem eine fähige Autorin war, die ihr ereignisreiches Leben mitreißend erzählen konnte, konnte man nicht wissen. Ich brauchte auch einige Zeit, bis bei mir der Groschen fiel und ich Lucy Duff-Gordon, die Autorin, und Lucile, die Modeschöpferin, zusammenbrachte und verstand, dass es sich um dieselbe Person handelt.

Auf Lucy Duff-Gordons Buch „Discretions and Indiscretions“ stieß ich nämlich schon vor einigen Jahren beim Überfliegen eines Online-Bibliothekskatalogs, auf der Suche nach interessant klingenden alten Titeln. Das ist eine der Strategien, wie ich Bücher finde: Ich lasse mich treiben, blättere in (digitalisierten) Zettelkatalogen, folge Schlagworten und Querverweisen. Manchmal, selten, finde ich dabei etwas Interessantes und heute noch Lesenswertes.

In diesem Katalog wurde Lucy Duff-Gordons Buch sinngemäß als „Memoiren einer englischen Dame der Gesellschaft“ beschrieben, dazu kam noch der nichtssagende englische Titel. Ich hatte ein Bild von ermüdenden Berichten von Teestunden und Jagdaufenthalten, von Tratsch und Klatsch im Kopf und mein Interesse erlosch sofort. Die Memoirenliteratur des 19. Jahrhunderts ist ein recht spezielles Genre. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fing es an, dass Menschen mit Geld und Bildung das Bedürfnis ausleben konnten, ihren Lebensweg zu erzählen und ein Buch daraus zu machen. Die meisten dieser Veröffentlichungen von Adeligen, Industriellen, Politikern und ja, auch von Damen der Gesellschaft, sind so langatmig, dass man es kaum erträgt, auch nur die Kindheit und Jugend der Autorinnen und Autoren abzuarbeiten. Der Fokus der Erzählenden liegt oft nicht auf den Dingen, die für uns heute interessant sind. Mit Glück findet man darin eine Handvoll lesenswerte Episoden, aber dazu muss man sich durch hunderte Seiten quälen, denn der typische Memoirenband aus dieser Zeit ist sehr umfangreich – es soll ja kein noch so uninteressantes Detail unter den Tisch fallen.

Lucy Duff-Gordon überquerte viele Male den Atlantik und war fasziniert von Amerika und seinen Möglichkeiten (Bild:
Bain News Service. Library of Congress, Public Domain.)
Im Jahr 1916. Sie war eine große Hundefreundin und besaß mehrere Chow Chows, von denen einer berühmt wurde (Bild: Library of Congress, Prints and Photographs Division, Public Domain.)

Lucie und Lucy, verwirrende Namensvetterinnen

Der Name Lucy Duff-Gordon kam mir in den folgenden Jahren noch ab und zu unter. Oder vielleicht war es – um die Verwirrung noch zu steigern – Lucie, Lady Duff-Gordon, von der ich las, eine englische Autorin, Übersetzerin und Reisende aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die noch heute berühmte Briefe aus Ägypten verfasste. Sie ist eine Großtante des zweiten Ehemanns Lucy Duff-Gordons, und falls ich die beiden, Lucy und Lucie, zeitweilig verwechselt haben sollte, befinde ich mich in der guten Gesellschaft Franklin Delano Roosevelts, dem dieser Lapsus auch unterlief (wer mehr darüber wissen möchte: In „Lucile. Mein Leben als Modeschöpferin“, Kapitel XX gibt es die ganze Geschichte).

Irgendwann beim Blättern in einem Buch über historische Mode – ich glaube es war ein Band aus der ausgezeichneten Reihe „Fashion in Detail“ des Victoria & Albert-Museums – , fielen alle Puzzleteile an ihren Platz: Bei einem Kleid mit dem Label „Maison Lucile“ war als Designerin nicht nur, wie sonst meistens, der Künstlername „Lucile“ angegeben, sondern der vollständige Name seiner Schöpferin: Lucy Duff-Gordon. War das nicht die, die auch ein Buch veröffentlicht hatte? Und wie hieß das nochmal? Konnte ich es wiederfinden? Konnte es sein, dass diese „Dame der Gesellschaft“ nicht nur über Klatsch und Tratsch schrieb, sondern auch darüber wie es war, um 1900 Mode zu entwerfen und weltweit zu verkaufen? Als ich dann auch noch erfuhr, dass Lucy Duff-Gordon Passagierin der Titanic war und es also nicht unwahrscheinlich wäre, hätte sie auch über das Schiffsunglück und ihr Überleben geschrieben, hatte ich das Gefühl, einem Schatz auf der Spur zu sein.

Das englische Original der Memoiren wirklich zu beschaffen, war dann gar nicht so leicht. Alte Exemplare der ersten britischen oder amerikanischen Ausgabe sind selten und teuer, ab 350 Pfund ist man dabei. Bibliotheken in der Nähe besaßen das Buch nicht. Auf angebliche Nachdrucke der Originalausgabe, die als print on demand von obskuren „Verlagen“ über amazon und in Online-Antiquariaten angeboten werden, verlasse ich mich nicht. Solche Ausgaben sind oft zweifelhaft zusammenkopiert, automatisch gescannt und in Text umgewandelt und unter Umständen gar nicht lesbar. Fündig wurde ich schließlich in einer indischen Bibliothek, die in ihrem Onlineangebot einen Scan der Erstausgabe von Lucy Duff-Gordons Discretions und Indiscretions bereithält – allerdings falsch eingeordnet unter dem Namen „Gordon Duff“. Mittlerweile ist der Originaltext im Netz leichter zu finden, aber wir bewegen uns hier im Jahr 2022.

Die Titanic vor der Jungfernfahrt, April 1912 am Pier in Southhampton
Die Titanic im April 1912 kurz vor ihrer ersten Fahrt am Pier in Southhampton (Bild:
Robert Welch – Harland & Wolff Collection, National Museums Northern Ireland, Public Domain)

Lucys Leben: Spannend wie ein Roman

Als ich Lucy Duff-Gordons Buch dann endlich vor mir hatte und anfing zu lesen, und nicht mehr aufhören konnte, weil der Text mich sofort hineinzog und Lucy Duff-Gordon so locker und anschaulich erzählte, war ich begeistert. Das Buch war wirklich ein Schatz, und ich hatte ihn gefunden. Noch nirgends hatte ich so einen unmittelbaren Blick auf die Lebensweise der Oberschicht in Großbritannien, Frankreich und den USA um die Jahrhundertwende gelesen. So viel über Mode und Kunst, Bälle und Freizeitvergnügen, Heiraten und Todesfälle, über berühmte Frauen, den Ersten Weltkrieg, die Spanische Grippe, die Titanic. Und das alles mitreißend erzählt mit der für Lucy – Lucile – typischen Sichtweise: Zuerst das Positive. Lucy Duff-Gordon hatte ein besonderes Talent (neben ihrem Talent für Mode und Selbstvermarktung), jede Schwierigkeit als Herausforderung zu sehen und nicht lange zu grübeln, sondern zu handeln. Das mag manchmal Zweckoptimismus gewesen sein, aber dadurch ist „Lucile. Mein Leben als Modeschöpferin“ ein beschwingtes, zutiefst optimistisch stimmendes Buch.

Über den langen Weg, dieses Buch neu zu veröffentlichen, schreibe ich hier vielleicht beim nächsten Mal (oder ich verrate Ihnen und euch meine größten Buch-Recherche-Flops.)

Bis bald!

Constanze Derham

Lucile. Mein Leben als Modeschöpferin“ gibt es im Buchhandel und portofrei hier im Shop.